Eine neue Studie eines internationalen Forscherteams um Ursula Staudinger zeigt, dass sich ältere Menschen heute mehr gehetzt fühlen als noch vor 25 Jahren. Durch Wirtschaftswachstum und Modernisierung hat der wahrgenommene Zeitdruck zugenommen – ein Phänomen, das als „Social Acceleration“ (soziale Beschleunigung) bekannt ist. Bisher wurde dies vor allem bei jungen Erwachsenen und solchen mittleren Alters, die noch erwerbstätig sind, untersucht. Doch die neue Studie macht deutlich, dass dies auch bei Erwachsenen in ihren 70ern und 80ern der Fall ist.
Warum Zeitwahrnehmung wichtig ist
Wie man Zeit erlebt, hat Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlbefinden. Die zehn Co-Autor:innen wollten deshalb herausfinden, ob sich sozialgeschichtliche Veränderungen der Zeitwahrnehmung auch bis ins hohe Alter erstrecken. Sie betrachteten zwei Dimensionen der Zeitwahrnehmung: die subjektive „Geschwindigkeit der Zeit“ und den wahrgenommenen „Zeitdruck“. Bei der „Geschwindigkeit der Zeit“ handelt es sich um das wahrgenommene Tempo, mit dem die Zeit im Alltag abläuft. „Zeitdruck“ hingegen kann als das Gefühl verstanden werden, dass die Zeit, die für die Erledigung notwendiger Dinge zur Verfügung steht, knapp wird.
Zeitdruck kann nach bisheriger Forschung zu einer schlechteren körperlichen Gesundheit, Erschöpfungsgefühl, erhöhtem Blutdruck oder depressiven Symptomen führen. Bisher lag der Fokus jedoch vor allem auf Erwachsenen jungen und mittleren Alters im Arbeitskontext. „Es ist wichtig, die Auswirkungen auf die gesamte Lebensspanne zu berücksichtigen“, sagt Staudinger. „Menschen hören nicht auf, Teil der Gesellschaft zu sein, wenn sie in Rente gehen. Und sie haben noch viel Lebenszeit zur Verfügung.“
Die Berliner Altersstudien
Um mehr über die Folgen für ältere Erwachsene herauszufinden, nutzten die Forschenden Daten aus angepassten Stichproben, die aus der Berliner Altersstudie Anfang der 1990er Jahre und der Berliner Altersstudie-II Mitte der 2010er Jahre gezogen wurden. Die sich rasant entwickelnde Metropolregion Berlin bietet einen idealen Rahmen für die Erforschung der sozialen Beschleunigung, da sie in den letzten 30 Jahren außerordentliche sozioökonomische und politische Veränderungen erfahren hat.
Was das Forschungsteam herausgefunden hat, ist, dass die später geborenen älteren Erwachsenen in den 1990er Jahren über mehr Zeitdruck berichteten als ihre gleichaltrigen Altersgenossen. Auf der anderen Seite unterschied sich die wahrgenommene Geschwindigkeit der Zeit nicht signifikant zwischen den Kohorten, obwohl die Wahrnehmungen früher geborener älterer Erwachsener unterschiedlicher waren.
Mögliche Erklärungen für erhöhten Zeitdruck
„Unsere Untersuchungen zeigen, dass die gesellschaftliche Beschleunigung auch ältere Menschen betrifft, die längst nicht mehr erwerbstätig sind“, berichtet Staudinger. Eine von den Autor:innen vorgeschlagene Erklärung ist der sogenannte „Bucket-List-Effekt“, der sich auf einen jüngeren historischen Trend bezieht, dass ältere Erwachsene mehr freizeitbezogene und soziale Ziele verfolgen, die sie im mittleren Erwachsenenalter aufgeschoben hatten. Darüber hinaus verbringen die älteren Erwachsenen von heute mehr Zeit mit Freiwilligenarbeit als ihre früheren Altersgenossen.
„Wir brauchen definitiv mehr Forschung in diese Richtung, um diese Faktoren sowie andere mögliche Ursachen, die zu einem erhöhten Zeitdruck bei älteren Menschen führen, besser zu verstehen“, betont Staudinger. „Mit der Anpassung des gesetzlichen Rentenalters in Deutschland wird die Zahl älterer Erwerbstätiger zunehmen. Daher könnten diese Fragen zu beschleunigenden Trends entscheidende Relevanz erlangen.“
Die neue Studie:
Sociohistorical Change in Urban Older Adults’ Perceived Speed of Time and Time Pressure