Menschliches Altern neu denken

Ursula M. Staudinger veröffentlichte zentrale Erkenntnisse ihrer über 20-jährigen Forschungsarbeit unter dem Titel “The Positive Plasticity of Adult Development: Potential for the 21st Century” in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift American Psychologist. Ihr Paradigma der Positiven Plastizität stellt einen wichtigen Schritt zum besseren Verständnis des dynamischen Prozesses der menschlichen Entwicklung dar und bietet Entscheidungshilfen für Sozialpolitik und wirksame Maßnahmen zur Optimierung des Alterns.

Menschen leben länger als jemals zuvor. Die durchschnittliche Lebenserwartung zum Zeitpunkt der Geburt ist seit 1840 um nahezu 40 Jahren gestiegen. “Es ist nicht nur so, dass Menschen länger leben, sie genießen auch mehr gesunde Jahre”, sagt Staudinger. “Natürlich ist das sowohl ein Geschenk wie auch eine Herausforderung für jeden Einzelnen und die Gesellschaft.” Längeres Leben weist darüber hinaus auf ein außergewöhnliches Merkmal des Menschen hin. „Im Gegensatz zu anderen Arten haben wir die Fähigkeit unsere eigene Entwicklung und den Alternsprozess zu verändern“, erklärt Staudinger. Dies geschieht absichtlich oder unbeabsichtigt, zum Guten oder Schlechten und innerhalb natürlicher Grenzen.

Ein neues Modell für menschliches Altern

Bei positiver Plastizität, so definieren es Wissenschaftler der Lebensspanne, geht es um das Potenzial zur Veränderbarkeit als integrales Merkmal der menschlichen Entwicklung. „Es ist wichtig zu verstehen, dass die menschliche Entwicklung und das Altern weder biologisch noch kontextabhängig sind“, sagt Staudinger. „Es ist weitaus komplexer, weil biologische, soziokulturelle Kräfte und das Verhalten einer bestimmten Person Teil davon sind.“

Ein längeres Leben kann Geschenk sowie Herausforderung sein. Foto: © Stephane Juban, Unsplash

Um diesen dynamischen Prozess darzustellen, entwickelte Staudinger ein dreistufiges interaktives Modell der menschlichen Entwicklung und des Alterns, das Plastizität ermöglicht. Es zeigt, dass Entwicklungsverläufe das Ergebnis kontinuierlicher Interaktionen zwischen Organismus (z.B. Organe, Zellen), Kontext (z.B. Institutionen, Umwelt) und Person (z.B. Verhalten, Einstellungen) sind, die das Potenzial für intraindividuelle Variationen schaffen. Das Neue an diesem Modell ist, dass es die Person als aktiven Agenten ihrer eigenen Entwicklung einschließt. Dabei ist dieser dritte „Einflussfaktor“ auf den Alterungsprozess nicht nur eine „entstehende Eigenschaft“ der Wechselwirkung zwischen Biologie und Kontext, sondern muss eigenständig berücksichtigt werden.

Fordere es heraus oder verliere es

Wie kann dann die positive Plastizität des menschlichen Alterns besser genutzt werden? Untersuchungen haben gezeigt, dass eine positive Plastizität während des gesamten Lebens bis ins hohe Alter erhalten bleiben kann, sofern nicht schwere pathologische Prozesse (z.B. Alzheimer-Demenz) stören. „Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass die wiederholte Aussetzung gegenüber Neuheiten und Herausforderungen eine positive Plastizität sowohl für die Persönlichkeit als auch für die Wahrnehmung erzeugen können.“

In Zeiten der Bevölkerungsalterung besteht ein wachsender Bedarf mehr über die Bedingungen zu wissen, die eine positive Plastizität der Erwachsenenentwicklung ermöglichen. Dies bedeutet, die Konstellationen soziokultureller und physischer Kontextmerkmale, persönliche Verhaltensmuster sowie deren biologische Ausstattung weiter zu untersuchen, um das Altern für möglichst viele zu optimieren. „Wir müssen jedoch zwischen Gruppen von Menschen unterscheiden, da es kein vielversprechendes Universalkonzept gibt“, betont Staudinger. „Obwohl wir noch einen langen Weg vor uns haben, ermöglichen uns die gewonnenen Erkenntnisse, Schritte in die richtige Richtung zu unternehmen. Und wenn ältere Menschen länger gesünder und unabhängig leben, profitieren alle davon.“

Mehr zum Thema:

APA Journals Article Spotlight | Rethinking adult development

Neue Rektorin der TU Dresden

Am 17. März 2020 wählte der Erweiterte Senat der TU Dresden Ursula M. Staudinger für eine fünfjährige Amtszeit zur Rektorin. Ihr Amtsantritt ist für Mitte August 2020 geplant. 

Im Vorfeld der Wahl gab es universitätsinterne Vorstellungsrunden. Staudinger nannte die erfolgreiche Ausgestaltung der im Exzellenzantrag der TU Dresden formulierten Ziele als wichtige Aufgabe für ihr Rektorat, um somit die Universität zu einer Bestätigung des Exzellenzstatus zu führen. Hierbei wird der Ausbau von breiter Interdisziplinarität auf Augenhöhe eine wichtige Rolle spielen.

Exzellente Forschung und Lehre

„Selbstverständlich muss exzellente Forschung Hand in Hand mit exzellenter und innovativer Lehre gehen“, sagte Staudinger. „Darüber hinaus möchte ich die TU Dresden zu einer globalen Universität für das 21. Jahrhundert entwickeln und sehe das 200-jährige Jubiläum im Jahr 2028 dabei als einen wichtigen Meilenstein.“ Die TU Dresden könne entscheidende Beiträge zur Bewältigung der globalen Herausforderungen der Menschheit leisten und ihre Rolle als wichtiger gesellschaftlicher Akteur weiter ausbauen.

Ursula M. Staudinger bei ihrer Vorstellung an der TU Dresden. © Michael Kretzschmar

Staudinger arbeitete bereits von 1999 bis 2003 als Professorin an der TU Dresden. Sie sei von der Entwicklung der Universität in den vergangenen Jahren tief beeindruckt: „Nicht zuletzt ist es diese Leistungskurve der Universität, die mich motiviert hat, mich um das Amt der Rektorin zu bewerben.“ Ursula M. Staudinger verfügt über umfangreiche Führungs- bzw. Managementerfahrungen sowie ausgezeichnete Kenntnisse anderer Wissenschaftssysteme, die sie ebenso wie ihre hervorragenden internationalen Netzwerke nun für die TU Dresden nutzen möchte. Sie wird ihre Pläne Mitte/Ende August im Rahmen einer Pressekonferenz im zeitlichen Umfeld erläutern.

Abschied von der Columbia University

Seit 2013 arbeitet Ursula Staudinger an der Columbia University in New York, wo sie als Gründungsdirektorin fünf Jahre lang das Robert N. Butler Aging Center leitete. Im August wird sie nun die Columbia University verlassen. “Es fällt mir nicht leicht Columbia University und das aussergewöhnliche interdisziplinäre Netzwerk, das ich dort mit Kollegen und Kolleginnen aufbauen konnte, zu verlassen. Ich hoffe, dass es mir gelingt eine enge Beziehung  zu Columbia zu erhalten”, sagt Staudiner.

Mehr dazu in den Medien:
mdr Sachsen | Ursula Staudinger wird neue Rektorin der TU Dresden
welt Sachsen | Forscherin Staudinger wird neue Rektorin der TU Dresden
Dresdner Neueste Nachrichten | Neue Rektorin der TU Dresden gewählt

Nobel Prize Dialogue Berlin 2019

Towards Health: Equality, Responsibility and Research

Am 8. November 2019 trafen sich Nobelpreisträger, weltweit führende Forschende, politische Akteure, Medienvertreter und die Öffentlichkeit beim Nobel Prize Dialogue in Berlin. Im Fokus der Veranstaltung standen Fragen rund um das Thema Gesundheit: Wie erreichen wir ein gesundes Leben und eine verantwortliche Gesundheitsversorgung für alle? Wie lassen sich gesundheitsförderliche Bildung und gute Arbeits- und Umweltbedingungen gestalten? Und was kann Forschung dazu beitragen?

Ursula Staudinger beim Nobel Prize Dialogue Berlin 2019
Foto: David Ausserhofer für die Leopoldina

Nobelpreisträger und weltweit führende Forschende

In der Eröffnungssession diskutierte Ursula Staudinger gemeinsam mit Peter Agre und Tolu Oni die Frage „Was bedeutet Gesundheit für Sie?“. Staudinger betonte, dass der Fokus auf Prävention und Behandlungen von Krankheiten nicht die Kehrseite der Stärkung von Gesundheitsressourcen von Anfang an sei. Darüber hinaus machte sie das Publikum darauf aufmerksam, dass Gesundheit nicht eindimensional zu verstehen sei. Vielmehr bestehen mehrere Bereiche wie körperliche, funktionelle, kognitive und emotionale Gesundheit. Dementsprechend gibt es auch vielfältige Einflussfaktoren auf die Gesundheit wie z.B. die Genetik, Verhaltensmuster sowie die Kontexte und Umfelder, denen sich Menschen aussetzen.  

Körperliche Fitness ist wichtig

In ihrem Kurzvortrag “Geistige Gesundheit und längeres Leben: Positive Plastizität des kognitiven Alterns“ betonte Staudinger, dass die altersbedingte Verschlechterung geistiger Leistungsfähigkeit abgemildert werden kann. „Eine Möglichkeit, wie wir diese sinkende Kurve verändert können, ist die Investition in unsere körperliche Fitness“, sagte sie. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Gehirne von körperlich fitten Sechzigjährigen weniger Aktivität aufbringen müssen um bessere Leistungen zu erzielen, so wie dies auch bei jüngeren Gehirnen der Fall ist.

Nobelpreisträger Edvard Moser und Ursula Staudinger
Foto: David Ausserhofer für die Leopoldina

In der nachfolgenden Frage & Antwort Runde zum Thema “Geistige Gesundheit, Kognition und Altern” beantworteten Nobelpreisträger Edvard Moser und Ursula Staudinger Fragen der Teilnehmer. Beide waren sich darüber einig, dass menschliche Gehirne extrem anpassungsfähig sind und dass Aktivität sowie die Konfrontation mit Neuem und Herausforderungen Schlüsselfaktoren darstellen, um dem Abbau kognitiver Fähigkeiten vorzubeugen. Auf die Frage, wie sich die neuen Technologien auf den Alternsverlauf der kognitiven Fähigkeiten auswirken, sagte Staudinger, dass neue Technologien hilfreich sein können um Verluste zu kompensieren (z.B. externes Gedächtnis). Solche Unterstützung darf aber nicht dazu führen, dass noch vorhandene Fähigkeiten verkümmern. Entscheidend für die Ausbildung des 21. Jahrhunderts sei es, Digitale Kompetenz so zu vermitteln, dass wir „Meister der Spielzeuge und der angeboteten Informationen werden“. Beide Wissenschaftler zeigten großen Optimismus hinsichtlich eines gesunden Alterns. Doch sie wiesen auch auf Gefahren wie Luftverschmutzung hin, die diesem positiven Trend ein Ende setzen könnten.    

Livestream der Veranstaltung

Ursula Staudinger ist ab 16:03 und ab 2:29:22 zu sehen.

Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft

Die Veranstaltung findet seit 2012 traditionell während der Woche der Nobelpreisverleihung statt und wurde nun zum ersten Mal in Deutschland ausgerichtet. Als Brückenschlag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft inspiriert und würdigt der Nobel Prize Dialogue menschlichen Erfinder- und Forschergeist und gemeinsames, kreatives Denken.

Interdisziplinäres Symposium zum Thema Altern

Die Lebenserwartung ist in den letzten Jahrzehnten enorm gestiegen. Das bringt große Herausforderungen, jedoch auch neue Chancen für den Einzelnen und die Gesellschaft. Vom 28. bis 30. März setzten sich in einem interdisziplinären Symposium der Heidelberger Akademie der Wissenschaften renommierte Vertreter aus Wissenschaft, Politik und öffentlichem Leben mit aktuellen Fragen zum Älterwerden auseinander. Ursula Staudinger und der ehemalige Bundesminister und Vizekanzler Franz Müntefering hielten die Keynote-Vorträge zur Eröffnung der Veranstaltung „Altern: Biologie und Chance“.

Altern lässt sich gestalten

In ihrem Vortrag sprach Ursula Staudinger über die Veränderbarkeit des Alterns, die sich aus dem kontinuierlichen Zusammenspiel von Biologie, Kultur und Person schöpft. Sie betonte, dass eine Gesellschaft des längeren Lebens – entgegen gängiger Vorstellungen – ein hohes Leistungs- und Innovationspotenzial hat. Soziale Institutionen wie Arbeitsmarkt, Bildungs- und Gesundheitssystem müssen sich jedoch auf das längere Leben einstellen und sich entsprechend umbauen.

Ursula Staudinger beim interdisziplinären Symposium zum Thema Altern der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Foto: Christoph Bastert

Aufgrund dieser soziokulturellen Gebundenheit des Alterns werden regelmäßig Unterschiede im Gesundheitszustand und der kognitiven Leistungsfähigkeit von alten Personen verschiedener Geburtskohorten beobachtet. Daraus ergibt sich, dass „das kalendarische Alter per se keinen Erklärungswert hat“, sagte Staudinger. Beispielsweise sind die heute 70-Jährigen hinsichtlich ihrer funktionalen Gesundheit etwa auf dem Stand von 60-Jährigen der vorherigen Generation. So konnten Staudinger und ihre Kollegen zeigen, dass England im Jahre 2040 – obwohl es dann chronologisch älter sein wird als heute – nicht weniger, sondern sogar mehr kognitive Leistungsfähigkeit haben wird. Aus dieser Veränderbarkeit des Alterns ergibt sich ein breiter Gestaltungsspielraum, den es zu nutzen gilt – in der Politik, in Unternehmen und für jede einzelne Person.

Im Gespräch mit Franz Müntefering und Moderator Gerhard Mandel, Foto: Christoph Bastert

Franz Müntefering über Lebensqualität im Alter

Franz Müntefering sprach in seinem Vortrag von persönlichen Erfahrungen und Erkenntnissen aus der Sicht eines 79-Jährigen. Nach einem langen und erfüllten Leben richtet er seinen Blick nicht nur auf politische Fragen, sondern setzt sich auch aktiv mit Themen wie Lebensqualität, soziales Miteinander, Aktivität im Alter und dem Sterben „als letztem Teil des Lebens“ auseinander.

Die Heidelberger Akademie der Wissenschaften ist zugleich auch Landesakademie von Baden-Württemberg. Sie pflegt über ihre Mitglieder den regelmäßigen fächerübergreifenden Dialog und ermöglicht durch den freien wissenschaftlichen Austausch und ihre Interdisziplinarität Themen umfassend zu diskutieren und der Öffentlichkeit vorzustellen. So war auch diese Veranstaltung ein wichtiger Beitrag zu einem aktuellen Thema.

Ursula Staudinger beim Expertengespräch im Bundesinnenministerium

Der Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand stellt einen wichtigen Aspekt der demografischen Entwicklung dar. Um mehr darüber zu erfahren, traf sich Bundesinnenminister Horst Seehofer am 28. Februar 2019 im kleinen Kreis mit Experten aus Wissenschaft, Kommunalverwaltung und Wirtschaft. Ursula Staudinger war als Alternsforscherin zum Expertengespräch eingeladen und brachte Forschungserkenntnisse über die Beeinflussbarkeit von menschlichem Altern und die Leistungsfähigkeit im fortgeschrittenen Alter ein.

Bundesinnenminister Horst Seehofer mit Teilnehmer*innen des Expertengesprächs am 28. Februar 2019, Quelle: BMI

Das gesamte Arbeitsleben im Blick

In dem Gespräch ging es unter anderem um die Frage, wie die neu entstandenen Potenziale in einer Gesellschaft des längeren Lebens besser genutzt werden können. Ursula Staudinger plädierte dafür, dass Wirtschaft und Politik sich noch stärker dafür einsetzen, eine Kultur der Wertschätzung, der Weiterentwicklung und des Lernens während des gesamten Erwerbslebens zu fördern. „Abwechslung in der Berufstätigkeit und immer wieder auch neue Aufgaben im Arbeitsalltag helfen dem kognitiven Abbau mit dem Alter entgegenzutreten“, sagte sie. Es sei zudem wichtig, das gesamte Arbeitsleben in den Blick zu nehmen und neue Berufsverläufe zu schaffen. Damit werden laterale Karrieren und immer wieder (versicherte) Auszeiten für Weiterbildung, die Familie oder persönliche Projekte ermöglicht.

Gleichzeitig müsse sich das gesetzliche Rentenalter der gestiegenen Lebenserwartung schrittweise anpassen, so Staudinger. Es sei jedoch wesentlich, am gesetzlichen Rentenalter festzuhalten. Denn das mache es den Menschen möglich, ohne Rechtfertigung aufzuhören zu arbeiten und erhalte den Generationenwechsel. Ebenso müsse jedoch auch an der Erleichterung des Wiedereinstiegs in bezahlte Arbeit nach der Rente gearbeitet werden – für diejenigen, die das möchten.

Gestaltung der gewonnenen Lebensjahre ist Aufgabe für alle

Am Expertengespräch nahmen außerdem Ralf Paul Bittner, Bürgermeister von Arnsberg – eine vielfach ausgezeichnete altersgerechte Kommune – und Marion Kopmann, Gründerin und Geschäftsführerin einer Beratungsagentur für die Weiterbeschäftigung und -bildung älterer Menschen, teil. Die Gesprächsteilnehmer waren sich einig, dass die Fähigkeiten und Talente älterer Menschen in unserer Gesellschaft besser anerkannt, genutzt und gefördert werden sollten. Die Gestaltung der gewonnenen Lebensjahre sei eine wichtige Aufgabe für alle. So stellen die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auch eine Herausforderung für den öffentlichen Dienst dar: Bis 2030 geht rund ein Drittel der derzeitigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesinnenministeriums in Rente.

Artikel auf welt.de zum Thema:
Später in Rente: Als „Silver Worker“ in den Unruhestand