Am 26. November war Ursula Staudinger eingeladen, die ceres Lecture an der Universität zu Köln zu halten. Sie sprach vor rund 120 Gästen über „Gewonnene Jahre – Potenziale des Alter(n)s“. ceres lädt regelmäßig international führende Wissenschaftler ein, um ihre Expertise Studierenden, Wissenschaftlern und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und Einblicke in ihre aktuelle Forschungsarbeit zu geben.
Gewonnene Lebenszeit
Ursula Staudinger betonte in ihrem Vortrag zwei grundlegende Veränderungen der letzten 100 Jahre: Die durchschnittliche Lebenserwartung ist um 30 Jahre gestiegen und das höhere Alter wird bei besserer Gesundheit erreicht. Diese gewonnene Lebenszeit bringt für Individuen und Gesellschaft sowohl Herausforderungen wie auch große Chancen. Allerdings sind Lebenslaufstrukturen und Altersbild immer noch stark durch das traditionelle Bild des Alterns geprägt und stammen aus einer Zeit, in der unsere Lebenserwartung, die Qualität des Lebens im Alter und die Verteilung von Aufgaben über die Lebensspanne ganz anders waren als heute.
Altern ist veränderbar
„Die Forschung zeigt, dass menschliche Entwicklung und Altern nicht determiniert sind, sondern aus der fortwährenden Wechselwirkung zwischen Biologie, Person und Kultur entstehen und somit – innerhalb biologisch gesetzter Grenzen – veränderbar ist“, sagte Staudinger. „Der Mensch besitzt also die Fähigkeit, seine eigene Natur zu verändern.“ Das bedeutet aber auch, dass die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft mit einer älter werdenden Bevölkerung entscheidend von ihrem Veränderungswillen abhängt. Dafür ist eine Neugestaltung von veralteten Strukturen in Bildung, Arbeitsmarkt, Politik, Zivilgesellschaft und nicht zuletzt in den Köpfen der Menschen notwendig.
Seit zehn Jahren berät die Leopoldina als deutsche Nationalakademie Politik und Gesellschaft zu wichtigen Zukunftsfragen. Am 21. und 22. September 2018 behandelte die Leopoldina-Jahresversammlung unter dem Titel „Natur – Wissenschaft – Gesellschaft“ das Thema der wissenschaftsbasierten Politikberatung. Ursula Staudinger hielt den Vortrag „Demographischer Wandel und Altern“ und illustrierte die wichtigsten Befunde und Empfehlungen zu der Thematik. An den sechs Empfehlungen arbeiteten über 80 WissenschaftlerInnen aus 10 Nationen mit.
Gesellschaft des längeren Lebens
Leben Im Laufe der letzten 100 Jahre hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung um 30 Jahre erhöht. Wichtige Treiber für diese „Gesellschaft des längeren Lebens“ sind die wirtschaftliche Entwicklung, das öffentliche Gesundheitswesen, die medizinische Wissenschaft und Praxis, die Entwicklung des Bildungssystems und schließlich auch die Entwicklung der Arbeitswelten. Inzwischen sind alle Länder von dieser Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung betroffen.
Man geht heute davon aus, dass global das Bevölkerungswachstum – unter Berücksichtigung der Fertilitätsraten – etwa 2070 zu einer Abflachung kommen wird. Dies wird zu einer Stabilisierung der Weltbevölkerung bei etwa 9-10 Milliarden führen. Der Prozentsatz der über 65-Jährigen wird dann weltweit bei ungefähr 30 Prozent liegen.
Veränderungswillen ist entscheidend
Die gesellschaftlichen Folgen dieses demographischen Wandels werden häufig anhand des Alterslastquotienten, der die über 65-Jährigen ins Verhältnis zu den 20- bis 64-Jährigen stellt, ausschließlich als Belastung moderner Wohlfahrtsstaaten dargestellt. Die gesellschaftliche Fokussierung auf das kalendarische Alter lässt außer Acht, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, seine eigene Natur zu verändern. Denn menschliche Entwicklung und Altern sind nicht determiniert, sondern entstehen aus der fortwährenden Wechselwirkung zwischen Biologie, Person und Kultur. Altern, auch in seinen biologischen Anteilen, ist durch Einflüsse von Gesellschaft und Individuum – innerhalb biologisch gesetzter Grenzen – veränderbar.
Die Alternsforschung hat gezeigt, dass man nicht nur älter wird, sondern auch länger körperlich und kognitiv gesund bleibt. Staudinger erläuterte: „Das gleiche kalendarische Alter – 70 plus – steht zu unterschiedlichen historischen Zeitenpunkten für unterschiedliches kognitives Alter. So wurde am Beispiel Großbritannien errechnet, dass die Bevölkerung zwischen 2002 und 2040 zwar chronologisch älter, jedoch aufgrund des Kohortenzugewinns an kognitiver Leistungsfähigkeit trotzdem geistig gesünder und aktiver sein wird. Daraus folgt, dass eine Gesellschaft des längeren Lebens durchaus eine leistungs- und innovationsfähige Gesellschaft sein kann.“
Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft mit einer älter werdenden Bevölkerung hängt jedoch entscheidend von ihrem Veränderungswillen ab. Dazu sind wichtige Schritte zur Veränderung veralteter Ordnungen in der Welt der Bildung, des Arbeitsmarkts und in der Volkswirtschaft, in den Regionen und den Gemeinden, in Familie, Zivilgesellschaft und Politik, in den Köpfen der Menschen und in der Praxis des Alltags notwendig.
Der Vortrag von Prof. Staudinger ist ab 7:26:40 zu sehen.
Auf dem Forschungsgipfel 2018 in Berlin kamen rund 400 Entscheider, Experten, Vordenker und Newcomer aus Wissenschaft, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik zusammen, um darüber zu beraten, wie das deutsche Forschungs- und Innovationssystem weiterentwickelt werden kann. Wie schon in den Jahren zuvor galt es, gemeinsam Zukunftsperspektiven zu entwickeln und – im Hinblick auf die kommenden Legislaturperioden und das nächste Forschungsrahmenprogramm der EU – Orientierung für strategische Entscheidungen zu geben.
Ursula Staudinger nahm an der Diskussionsrunde „Perspektiven für die deutsche Forschungs- und Innovationspolitik“ gemeinsam mit sieben hochrangigen Repräsentanten von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft teil. Sie sagte, dass die Innovationsfähigkeit in einer Gesellschaft des längeren Lebens viele Stolpersteine zu überwinden habe. So sei beispielsweise das Vorurteil, dass Innovationsfähigkeit an ein bestimmtes kalendarisches Alter geknüpft wäre, sehr weit verbreitet. Allerdings zeige die Forschung, dass Innovationen per se nicht mit dem Alter einhergehen, sondern mit bestimmten Anreizbedingungen und mit der Fähigkeit, Menschen jeden Alters durch Lernen an der Entwicklung teilhaben zu lassen.
Eine wichtige Voraussetzung dafür sei, dass die Investitionen, die Unternehmen in das Wissen und die Fähigkeiten ihrer MitarbeiterInnen tätigen, als Vermögen sichtbar würden – in ähnlicher Weise wie dies bei Investitionen in Maschinen und Gebäude der Fall sei. Dies würde es ermöglichen, die MitarbeiterInnen eines Unternehmens vom Kosten- zum Vermögensfaktor (einschließlich der zugehörigen Abschreibungsperioden) zu wandeln. Unternehmen hätten so einen klaren Anreiz, in ein kontinuierliches „Updating-System“ in der beruflichen Weiterbildung zu investieren.
„Wenn es uns in einer Gesellschaft des längeren Lebens nicht gelingt, Menschen immer wieder auch auf ihrem jeweiligen Qualifizierungsniveau weiterzuentwickeln, können sie nicht innovativ bleiben“, sagte Staudinger. Die Forschung zeige auch, dass die spannendsten und nachhaltigsten Innovationen dort entstünden, wo junge und ältere Arbeitnehmer in Entwicklungsteams zusammenarbeiten. „Nachhaltige und erfolgreiche Innovation entsteht da, wo neues Wissen und gewachsene Erfahrungen und Fähigkeiten zusammengeführt und integriert werden“, betonte Staudinger.
Eine der großen Stärken Deutschlands sei das Ausbildungssystem in seiner ganzen Breite. „Meine Hoffnung ist, dass wir in Deutschland der Erwachsenenbildung – sei sie berufsbegleitend und auch außerhalb des Berufs – genauso viel Aufmerksamkeit und Investition widmen, wie wir das so fantastisch gemacht haben für die ersten 20 Jahre der Ausbildung am Anfang unseres Lebens“, sagte Staudinger. In der Gesellschaft des längeren Lebens sei eine Verantwortung entstanden, sicher zu stellen, dass wir auf gleicher Qualitätsebene weiterlernen können. Dies müsse der Normalfall und nicht die Ausnahme sein. „Sonst verlieren mehr und mehr Menschen den Anschluss – und unser Land seine Innovationskraft.“
Hier finden Sie den Mitschnitt zur Diskussionsrunde (Video-Clip 4, Forschungsgipfel 2018 – Diskussion Inner Circle 1):
An der Diskussion nahmen teil:
Thomas Bachem, Gründer und Kanzler der CODE University of Applied Sciences sowie Gründer und stellv. Vorsitzender des Bundesverbandes Deutsche Startups e.V., Berlin
Prof. Dr. Heinz Bude, Lehrstuhlinhaber für Makrosoziologie an der Universität Kassel
Marc Elsberg, Science-Thriller-Autor (Blackout, Zero, Helix), München/Wien
Stefan Groschupf, Gründer und CEO der SalesHero Inc. sowie Gründer der Datameer Inc., San Francisco, USA
Anja Karliczek, Bundesministerin für Bildung und Forschung, Berlin
Dr. Joachim Kreuzburg, Vorsitzender des Vorstandes der Sartorius AG, Göttingen
Prof. Dr. Ursula Staudinger, Psychologin und Alternsforscherin am Columbia Aging Center, Columbia University, NY, USA
Dr. Shermin Voshmgir, Gründerin des BlockchainHubs, Berlin, und Direktorin des Foschungsinstitutes für Kryptoökonomie an der Universität Wien
Die alternde europäische Bevölkerung bedeutet eine langfristige Herausforderung mit großen Auswirkungen für die Gesundheitssysteme und die Wirtschaft der betroffenen Länder. Angesichts der abnehmenden kognitiven Leistungen im höheren Alter ist eine Frage von zentraler Bedeutung: Werden die „neuen Alten“ weiterhin geistig fitter sein als ihre Vorgänger? Wenn die kognitive Beeinträchtigung in einem höheren Tempo verzögert werden könnte als die Zunahme der Lebenserwartung, dann könnten ältere Menschen künftig länger produktiv tätig sein und würden weniger Pflegeressourcen in Anspruch nehmen.
Die gute Nachricht ist: Die kognitiven Leistungen im hohen Alter haben sich tatsächlich in den meisten der 10 europäischen Ländern verbessert, die an der Längsschnittuntersuchung SHARE (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe) teilgenommen haben. Die besseren Leistungen der später geborenen Kohorten bei verschiedenen kognitiven Maßnahmen sind auch als sogenannter Flynn-Effekt bekannt. Doch manche Länder könnten die Grenze der kognitiven Plastizität bald erreichen – das legen neue Erkenntnisse der Publikation “Trends and determinants of the Flynn effect in cognitive functioning among older individuals in 10 European countries” von Philipp Hessel, Jonas M. Kinge, Vegard Skirbekk und Ursula M. Staudinger nahe. „Wir haben herausgefunden, dass Länder wie Dänemark, Deutschland und Schweden, die anfangs bessere kognitive Leistungen aufwiesen, geringere Verbesserungen oder sogar eine Unveränderlichkeit zeigten. Die Länder, die schwächer gestartet sind, zeigten jedoch weiterhin Verbesserungen“, sagt Staudinger.
Zuwächse in der Sekundarschulbildung, Senkungen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Arbeitsmarktpartizipation sowie physische Aktivität sind Faktoren, die sich positiv auf die kognitive Leistung älterer Menschen auswirken. Ein Grund, weshalb die Steigerung der kognitiven Leistungen in Ländern mit anfangs schlechteren Werten (z.B. Frankreich, Italien, Spanien) deutlicher ausgefallen sind, könnten die erheblichen Fortschritte im Bildungssystem sein. Diese haben vor allem dazu geführt, dass es in den letzten 10 Jahren zunehmend weniger Personen gab, die nur über eine Grundschulausbildung verfügen.
Für den Stillstand in den leistungsstärkeren Ländern hingegen könnte es mehrere Gründe geben: Erstens könnten biologische Grenzen der kognitiven Plastizität existieren. Zweitens wäre es möglich, dass die Veränderung in den leistungsstärkeren Ländern sich zwar verlangsamt hat, aber dennoch über einen längeren Zeitraum als 10 Jahre erkennbar sein könnte. Und schließlich könnte es sein, dass die gesellschaftlichen Strukturen, die das mittlere und höhere Alter ansprechen, noch nicht für eine umfangreiche körperliche, soziale und intellektuelle Förderung optimiert worden sind. „Deshalb brauchen wir eine systematische Entwicklung und Umsetzung zur Förderung von lebenslangem Lernen auf allen Bildungsebenen“, fordert Staudinger. „Insbesondere bei der Arbeitsumgebung und Freiwilligentätigkeit können wir noch viel tun, um die kognitive Fitness bis ins hohe Alter stärker zu unterstützen.“
Am 7. Februar 2018 ernannte NRW-Wissenschaftsministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen Ursula Staudinger, Klaus Engel und Beate Konze-Thomas als neue Mitglieder des Hochschulrats der Ruhr-Universität Bochum (RUB). Mit der Ernennung der drei neuen Mitglieder ist der siebenköpfige Hochschulrat nun vollzählig. „Wichtig ist die freundschaftlich-kritische Begleitung der Hochschule. Das ist dann auch für die Hochschule eine große Chance. Wenn das gelingt, sind Sie gute Botschafter für die Uni“, sagte Pfeiffer-Poensgen in ihrer Ansprache und überreichte allen Hochschulrat-Mitgliedern eine Urkunde.
Die Mitglieder des Hochschulrats, die für fünf Jahre berufen werden, bestimmen die Geschicke der Ruhr-Universität wesentlich mit und haben weit reichende Befugnisse: Der Rat besitzt eine unmittelbare strategische Funktion für die künftige Entwicklung der Hochschule und ihm obliegt die Aufsicht über das durch die Hochschulleitung erledigte operative Geschäft. Der Hochschulrat der RUB besteht nun aus Dr. Ricarda Brandts, Dr. Klaus Engel, Birgit Fischer, Thomas Jorberg, Dr. Beate Konze-Thomas, Prof. Dr. Ursula M. Staudinger und Prof. Dr. Hildegard Westphal.