Die alternde europäische Bevölkerung bedeutet eine langfristige Herausforderung mit großen Auswirkungen für die Gesundheitssysteme und die Wirtschaft der betroffenen Länder. Angesichts der abnehmenden kognitiven Leistungen im höheren Alter ist eine Frage von zentraler Bedeutung: Werden die „neuen Alten“ weiterhin geistig fitter sein als ihre Vorgänger? Wenn die kognitive Beeinträchtigung in einem höheren Tempo verzögert werden könnte als die Zunahme der Lebenserwartung, dann könnten ältere Menschen künftig länger produktiv tätig sein und würden weniger Pflegeressourcen in Anspruch nehmen.
Die gute Nachricht ist: Die kognitiven Leistungen im hohen Alter haben sich tatsächlich in den meisten der 10 europäischen Ländern verbessert, die an der Längsschnittuntersuchung SHARE (Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe) teilgenommen haben. Die besseren Leistungen der später geborenen Kohorten bei verschiedenen kognitiven Maßnahmen sind auch als sogenannter Flynn-Effekt bekannt. Doch manche Länder könnten die Grenze der kognitiven Plastizität bald erreichen – das legen neue Erkenntnisse der Publikation “Trends and determinants of the Flynn effect in cognitive functioning among older individuals in 10 European countries” von Philipp Hessel, Jonas M. Kinge, Vegard Skirbekk und Ursula M. Staudinger nahe. „Wir haben herausgefunden, dass Länder wie Dänemark, Deutschland und Schweden, die anfangs bessere kognitive Leistungen aufwiesen, geringere Verbesserungen oder sogar eine Unveränderlichkeit zeigten. Die Länder, die schwächer gestartet sind, zeigten jedoch weiterhin Verbesserungen“, sagt Staudinger.
Zuwächse in der Sekundarschulbildung, Senkungen bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Arbeitsmarktpartizipation sowie physische Aktivität sind Faktoren, die sich positiv auf die kognitive Leistung älterer Menschen auswirken. Ein Grund, weshalb die Steigerung der kognitiven Leistungen in Ländern mit anfangs schlechteren Werten (z.B. Frankreich, Italien, Spanien) deutlicher ausgefallen sind, könnten die erheblichen Fortschritte im Bildungssystem sein. Diese haben vor allem dazu geführt, dass es in den letzten 10 Jahren zunehmend weniger Personen gab, die nur über eine Grundschulausbildung verfügen.
Für den Stillstand in den leistungsstärkeren Ländern hingegen könnte es mehrere Gründe geben: Erstens könnten biologische Grenzen der kognitiven Plastizität existieren. Zweitens wäre es möglich, dass die Veränderung in den leistungsstärkeren Ländern sich zwar verlangsamt hat, aber dennoch über einen längeren Zeitraum als 10 Jahre erkennbar sein könnte. Und schließlich könnte es sein, dass die gesellschaftlichen Strukturen, die das mittlere und höhere Alter ansprechen, noch nicht für eine umfangreiche körperliche, soziale und intellektuelle Förderung optimiert worden sind. „Deshalb brauchen wir eine systematische Entwicklung und Umsetzung zur Förderung von lebenslangem Lernen auf allen Bildungsebenen“, fordert Staudinger. „Insbesondere bei der Arbeitsumgebung und Freiwilligentätigkeit können wir noch viel tun, um die kognitive Fitness bis ins hohe Alter stärker zu unterstützen.“