Seit zehn Jahren berät die Leopoldina als deutsche Nationalakademie Politik und Gesellschaft zu wichtigen Zukunftsfragen. Am 21. und 22. September 2018 behandelte die Leopoldina-Jahresversammlung unter dem Titel „Natur – Wissenschaft – Gesellschaft“ das Thema der wissenschaftsbasierten Politikberatung. Ursula Staudinger hielt den Vortrag „Demographischer Wandel und Altern“ und illustrierte die wichtigsten Befunde und Empfehlungen zu der Thematik. An den sechs Empfehlungen arbeiteten über 80 WissenschaftlerInnen aus 10 Nationen mit.
Gesellschaft des längeren Lebens
Leben Im Laufe der letzten 100 Jahre hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung um 30 Jahre erhöht. Wichtige Treiber für diese „Gesellschaft des längeren Lebens“ sind die wirtschaftliche Entwicklung, das öffentliche Gesundheitswesen, die medizinische Wissenschaft und Praxis, die Entwicklung des Bildungssystems und schließlich auch die Entwicklung der Arbeitswelten. Inzwischen sind alle Länder von dieser Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung betroffen.
Man geht heute davon aus, dass global das Bevölkerungswachstum – unter Berücksichtigung der Fertilitätsraten – etwa 2070 zu einer Abflachung kommen wird. Dies wird zu einer Stabilisierung der Weltbevölkerung bei etwa 9-10 Milliarden führen. Der Prozentsatz der über 65-Jährigen wird dann weltweit bei ungefähr 30 Prozent liegen.
Veränderungswillen ist entscheidend
Die gesellschaftlichen Folgen dieses demographischen Wandels werden häufig anhand des Alterslastquotienten, der die über 65-Jährigen ins Verhältnis zu den 20- bis 64-Jährigen stellt, ausschließlich als Belastung moderner Wohlfahrtsstaaten dargestellt. Die gesellschaftliche Fokussierung auf das kalendarische Alter lässt außer Acht, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, seine eigene Natur zu verändern. Denn menschliche Entwicklung und Altern sind nicht determiniert, sondern entstehen aus der fortwährenden Wechselwirkung zwischen Biologie, Person und Kultur. Altern, auch in seinen biologischen Anteilen, ist durch Einflüsse von Gesellschaft und Individuum – innerhalb biologisch gesetzter Grenzen – veränderbar.
Die Alternsforschung hat gezeigt, dass man nicht nur älter wird, sondern auch länger körperlich und kognitiv gesund bleibt. Staudinger erläuterte: „Das gleiche kalendarische Alter – 70 plus – steht zu unterschiedlichen historischen Zeitenpunkten für unterschiedliches kognitives Alter. So wurde am Beispiel Großbritannien errechnet, dass die Bevölkerung zwischen 2002 und 2040 zwar chronologisch älter, jedoch aufgrund des Kohortenzugewinns an kognitiver Leistungsfähigkeit trotzdem geistig gesünder und aktiver sein wird. Daraus folgt, dass eine Gesellschaft des längeren Lebens durchaus eine leistungs- und innovationsfähige Gesellschaft sein kann.“
Die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft mit einer älter werdenden Bevölkerung hängt jedoch entscheidend von ihrem Veränderungswillen ab. Dazu sind wichtige Schritte zur Veränderung veralteter Ordnungen in der Welt der Bildung, des Arbeitsmarkts und in der Volkswirtschaft, in den Regionen und den Gemeinden, in Familie, Zivilgesellschaft und Politik, in den Köpfen der Menschen und in der Praxis des Alltags notwendig.
Der Vortrag von Prof. Staudinger ist ab 7:26:40 zu sehen.