Am 16. Dezember stellte Ursula M. Staudinger, Sprecherin der Leopoldina-Kommission Demografischer Wandel, gemeinsam mit weiteren Autor*innen den Zukunftsreport Wissenschaft „Altern und Lebensverlauf: Forschung für die gewonnen Jahre“ vor. Über mehrere Jahre arbeiteten sieben führende Wissenschaftler*innen verschiedener Alternsdisziplinen gemeinsam unter Staudingers Federführung an dem Zukunftsreport. Dieser widmet sich der Leitfrage: Welche Forschung kann uns helfen, die Herausforderungen des längeren Lebens und des demografischen Wandels gut zu bewältigen?
„Der demografische Wandel ist neben dem Klimawandel eine der zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“, betonte Staudinger auf der Online-Veranstaltung Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina mit rund 100 Teilnehmenden in ihrem Eröffnungsstatement. Die durchschnittliche Lebenserwartung hat im Verlauf der letzten 150 Jahre um rund 40 Jahre zugenommen. Darüber hinaus sind die Lebensverläufe vielfältiger geworden. Diese Entwicklungen tragen dazu bei, dass das Wissenschaftsfeld der Alterns- und Lebensverlaufsforschung deutlich an Bedeutung gewonnen hat. Dabei gilt es, die „gewonnenen Jahre“ so zu gestalten, dass Lebensqualität, Produktivität und Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft des längeren Lebens erhalten bleiben und weiterentwickelt werden.
Deutschland hat Aufholbedarf
Die Erhöhung der durchschnittlichen Lebenserwartung ist eine Errungenschaft soziokultureller Entwicklung. Menschen haben die Fähigkeit – im Gegensatz zu anderen Arten – ihre eigene Entwicklung und den Alternsprozess zu verändern. Menschliches Altern ist also nicht nur biologisch beeinflusst. Vielmehr entsteht der Alternsprozess aus der kontinuierlichen Wechselwirkung zwischen Biologie, individuellen Entscheidungen und Lebensstilen, sowie soziokulturellem Kontext. Das von Staudinger entwickelte biopsychosoziale Modell veranschaulicht das Zusammenspiel von Kontext, Person und Organismus.
Diese Erkenntnis unterstreicht auch die Notwendigkeit interdisziplinärer Forschung, die Befunde aus einzelnen Disziplinen zusammenführt, um eine erfolgreiche Gestaltung des demografischen Wandels zu ermöglichen. Laut Zukunftsreport bleibt Deutschland trotz umfangreicher Forschung gegenwärtig noch hinter ihren Möglichkeiten zurück und schneidet im Vergleich mit anderen Ländern wie Frankreich, Niederlande, USA oder Großbritannien schlecht ab.
Interdisziplinäre Forschung gefragt
Die Autor*innen des Zukunftsreports weisen darauf hin, dass die in Deutschland vorherrschende Förderthemen der Alternsforschung Krankheiten und deren molekulare Grundlagen sowie Pflege und technische Assistenzsysteme im Alter sind. Um jedoch wesentliche Forschungsfragen beantworten zu können, müssen andere Forschungsbereiche stärker berücksichtigt und bei geförderten Projekten alle relevanten Disziplinen einbezogen werden. „Das Einbeziehen darf nicht bei einem Nebeneinander der Disziplinen stehen bleiben, sondern muss den Schritt hin zu einem gleichberechtigten Miteinander tun, um den Erkenntnisfortschritt in der Alterns- und Lebensverlaufsforschung auf die nächste Stufe zu heben“, sagte Staudinger. „Bisher fehlte der Wille zu einer breit aufgestellten Alternsforschungsagenda.“
Auch sind in der deutschen Alterns- und Lebensverlaufsforschung Sozial-, Verhaltens- und Geisteswissenschaften deutlich weniger vertreten als beispielsweise in Großbritannien, Schweden oder den Niederlanden. Eine strategische und programmatische Förderung in Form von Zentren, Programmen, Forschungsinfrastruktur und Weiterbildungsmaßnahmen ist für einer Interdisziplinarität von hoher Bedeutung. Die Autor*innen des Reports sprachen sich für einen Kompetenz-Verbund – aufbauend auf bereits bestehenden Zentren – mit einer zentralen Koordinierungsstelle aus und wünschten sich von der Politik positive Signale für eine nationale Forschungsstrategie im Bereich der Alterns- und Lebensverlaufsforschung.
Corona als Verstärker
Ergänzend zu dem Zukunftsreport wurden in einer Extra-Beilage Herausforderungen identifiziert, die sich aus der Coronavirus-Pandemie für die Alterns‐ und Lebensverlaufsforschung ergeben. Die Pandemie hat sowohl Stärken als auch Schwächen des Gesundheitssystems offenbart und bereits im Zukunftsreport erwähnte Themenfelder weiter verstärkt. So sind Menschen mit Vorerkrankungen, die im Alter häufiger vorkommen, beispielsweise einem höheren Sterblichkeitsrisiko ausgesetzt. Die Autor*innen betonen, dass die Herausforderungen der Gesellschaft durch demografischen Wandel, Klimawandel und aktuell COVID-19 in Zukunft stärker im Zusammenhang gesehen und noch entschiedener angegangen werden müssen.
Der Zukunftsreport wurde vorgestellt durch:
- Ursula M. Staudinger ML, Technische Universität Dresden (Federführung)
- Gerd Kempermann, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) Dresden und Forschungszentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD), Technische Universität Dresden (Federführung)
- Karl Ulrich Mayer ML, Präsident a.D. der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz e.V., Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Yale University
- Josef Ehmer, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Wien, Internationales Geisteswissenschaftliches Kolleg Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive, Humboldt-Universität zu Berlin
- Alexia Fürnkranz-Prskawetz ML, Institut für Stochastik und Wirtschaftsmathematik, Technische Universität Wien, Wittgenstein Centre for Demography and Global Human Capital, Univ. Vienna, IIASA, VID/ÖAW
- Cornel Sieber, Institut für Biomedizin des Alterns, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
- Johannes Siegrist, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf